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Oliver Plessow
(unter Mitwirkung von Volker Honemann und Mareike Temmen)

Mittelalterliche Schachzabelbücher zwischen Spielsymbolik und Wertevermittlung

Der Schachtraktat des Jacobus de Cessolis im Kontext seiner spätmittelalterlichen Rezeption

Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme –
Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496
Band 12

2007, 516 Seiten, 31 Abbildungen (16 Vierfarbabbildungen, 15 S/W-Abbildungen), Harteinband
2007, 516 pages, 31 figures (16 color figures, 15 b/w figures), hardcover

ISBN 978-3-930454-61-7
Preis/price EUR 66,–

17 × 24cm (B×H), 1040g

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Inhaltsverzeichnis
Einleitung (Auszug)
Zusammenfassung der Ergebnisse (Auszug)

Kurzzusammenfassung:

Die Studie untersucht anhand eines im Lateinischen wie in den Volkssprachen weit verbreiteten Textes spätmittelalterliche Wege der Moralerziehung. Im Mittelpunkt stehen dabei der ›Liber de moribus hominum et de officiis nobilium sive de ludo scaccorum‹ des Genueser Dominikaners Jacobus de Cessolis und dessen deutsche Übersetzungen. Diese ›Schachzabelbücher‹ heben sich von der Masse der damaligen Moralschriften ab, insofern sie in einmaliger Weise die Tradition der Exempel- und Sentenzensammlung mit einer auf dem Schachspiel basierenden Ständeallegorie verknüpfen. Die Schachbildlichkeit erfüllte in den Schachzabelbüchern eine Doppelfunktion als textprägendes Strukturmerkmal und als Gesellschaftsmetapher. Durch eine rezeptionsgeschichtliche Analyse wird vorgeführt, wie der Text, der im Lateinischen zunächst als Handreichung für Prediger entstand und dies auch für die gesamte Dauer des Mittelalters blieb, mit dem Übergang in die Volkssprache neue Leserschichten erreichte. Deren ganz eigene Annäherung an den Text hinterließ deutliche Spuren in der Ausgestaltung von Handschriften und Drucken. Trotz des im Kern immer gleichen Textbestands ergaben sich markante Verschiebungen im Verhältnis von Symbolik und Wertevermittlung. Ein detaillierter und auf die spezifische Fragestellung ausgerichteter Katalog der Textzeugen ergänzt den Textteil der Studie.

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Inhaltsverzeichnis (gekürzt):

Einleitung

1. Die Schachbildlichkeit als mittelalterliche Gesellschaftsmetapher

2. Der ›Liber de moribus‹ des Jacobus de Cessolis

2.1 Jacobus de Cessolis als Autor des ›Liber de moribus‹
2.2 Zur Datierung des ›Liber de moribus‹
2.3 Überlegungen zur Formgebung und zur Struktur des ›Liber de moribus‹
2.4 Der ›Liber de moribus‹ in der Forschung
2.5 Der ›Liber de moribus‹ und seine Übertragungen ins Mittelhochdeutsche und Mittelniederdeutsche

3. Die Schachzabelbücher im Spiegel ihrer spätmittelalterlichen Rezeption

3.1 Die Breite der Überlieferung
3.2 Die zeitliche Ausbreitung im deutschen Sprachraum
3.3 Die räumliche Ausbreitung im deutschen Sprachraum
3.4 Die Träger der Überlieferung

4. Zugriffsmechanismen und Orientierungshilfen

4.1 Glossierungen und Unterstreichungen
4.2 Register und komplexe Verweissysteme

5. Die Rolle der Illustration

5.1 Perspektiven
5.2 Der Anteil der illustrierten Handschriften in den unterschiedlichen Schachzabelbüchern
5.3 Der Illustrationszyklus in den unterschiedlichen Schachzabelbüchern
5.4. Die Sprengung des Zyklus
5.5 Volkssprache und Illustration
5.6 Illustration und Mnemotechnik
5.7 Illustration und Repräsentation

6. Die Mitüberlieferung als Zeugnis für trägerspezifische Textnutzungsweisen

6.1 Überlieferungsverbünde bei den Textzeugen des ›Liber de moribus‹
6.2 Überlieferungsverbünde bei den Textzeugen von Konrads Schachbuch
6.3 Die Zusammenstellung von Texten in Handschriften der Zweiten Prosafassung

7. Zusammenfassung der Ergebnisse

Katalog der Textzeugen und Drucke

1. Katalog der Textzeugen des lateinischen ›Liber de moribus‹, der Versbearbeitung Konrads von Ammenhausen und der Zweiten Prosafassung

Textzeugen des ›Liber de moribus‹ des Jacobus de Cessolis
Textzeugen des Schachbuchs Konrads von Ammenhausen
Textzeugen der Zweiten Prosafassung

2. Katalog der Textzeugen weiterer deutscher Prosa- und Versbearbeitungen

Literatur

Abkürzungen

Register

Abbildungen

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Einleitung (Auszug)

Das Spätmittelalter kannte eine Vielfalt von Schriften, mit deren Hilfe das diesseitige Handeln der Menschen normiert werden sollte. Diese als ›Tugenddidaxe‹ zu bezeichnende Gruppe von Texten bildet einen Bereich der Literatur, der komplexe Sozialbeziehungen zugleich deskriptiv repräsentiert und präskriptiv zu gestalten sucht. Im Gegensatz zur unmittelbaren Normvorgabe durch die Rechtsprechung liefert die Verhaltensparänese Begründungszusammenhänge, die etwas über die Verfahren aussagen, mit denen sich die Menschen einer Epoche ihre sozialen Lebensverhältnisse vergegenwärtigen. Tugenddidaxe kondensiert und systematisiert Verhaltensvorgaben, und während sie handlungsorientierend wirkt, gibt sie etwas von den Denkstrukturen ihres Entstehungsumfelds preis.

Zu den populärsten dieser tugenddidaktischen Schriften zählte der ›Liber de moribus hominum et de officiis nobilium sive de ludo scaccorum‹ des Genueser Dominikaners Jacobus de Cessolis, der im 14. und 15. Jahrhundert eine unvergleichliche Wirkung im Lateinischen wie in zahlreichen volkssprachigen Übersetzungen entfaltete. Diese ›Schachbücher‹ oder ›Schachzabelbücher‹, wie der lateinische Traktat und seine Übertragungen gemeinschaftlich genannt werden, heben sich von den meisten anderen spätmittelalterlichen Lehrdichtungen dadurch ab, daß sie einer komplexen Gesellschaftsallegorie, der Bildlichkeit vom Schachspiel, einen zentralen textorganisatorischen Platz einräumen, ohne indes völlig in dieser aufzugehen. Wie nur wenige vergleichbare Texte operiert damit eines der markantesten und wirksamsten Beispiele spätmittelalterlicher Lehrdichtung auf hervorgehobener Ebene mit einem Element symbolischer Kommunikation.

Symbolische Elemente spielen in Texten, die dem Normentransfer verpflichtet sind, wie in der Literatur überhaupt eine gewichtige Rolle, und sie tun dies auf unterschiedlichen Ebenen. Formen von Symbolisierung kennzeichnen schon die Mikrostruktur der Texte; viele tugenddidaktische Schriften arbeiten mit Exempeln, und bereits diese stellen im Kern einen ›Mechanismus des Indirekten‹ dar. Der tatsächlich Belehrte soll aus der Beispielgeschichte eine allgemeine Verhaltensrichtlinie ziehen, die er dann wiederum auf seine eigene konkrete Situation beziehen muß. Allein dieser Sinnschritt bietet genügend Raum für jenen ›Überschuß des Gemeinten‹, der symbolische Ausdrucksformen konstituiert.

Vorgehensweise und Methodik

Das Ziel der hier vorgelegten Studie ist es, dem Zusammenhang zwischen Symbolverwendung und Wertevermittlung für die Schachzabelbücher als maßgebliche Textgruppe der tugenddidaktischen Literatur des Spätmittelalters nachzugehen. Anhand eines herausragenden Fallbeispiels wird somit ein einzelnes Modell auf seine gruppeninterne Wandlungsfähigkeit wie seine Wandlungsresistenz hin geprüft. Damit wird ein neuer Weg beschritten, denn die bisherige Forschung hat angesichts der Beständigkeit der Schach-Sozialmetapher in allen Bearbeitungen niemals die Wandlungsvorgänge untersucht, die sich bei genauem Blick auf die Überlieferung erkennen lassen. Zwei Ausgangsbeobachtungen umreißen das zu bearbeitende Feld und die sich daraus ergebenden Fragenkomplexe. Zum einen ist zu bedenken, daß die Ständesymbolik in den mittelalterlichen Schachbüchern stets eine Doppelfunktion als gesellschaftserläuterndes Modell und als textgliederndes Element erfüllte. Die Bildlichkeit ist mithin nicht allein als eine symbolische Darstellungsweise der Ständeordnung unter anderen zu analysieren, sondern jeweils auch auf ihre Präsenz und Durchdringungstiefe im gesamten Traktat und in seinen volkssprachigen Übertragungen hin zu befragen. Zum anderen ist bemerkenswert, daß die überaus lange Wirkungsdauer zur Folge hatte, daß hier ein übergeordnetes Systematisierungsmodell über den Wandel der Zeitläufte hinweg und in disparaten gesellschaftlichen Realitäten seine Anwendung finden konnte. Notwendig ist daher eine Verschiebung des Schwerpunkts der Untersuchungsperspektive von den Produktionsumständen und der Vorstellung der konstanten Wirkung eines einmal niedergeschriebenen Textes auf die Eigenarten und Auffälligkeiten der Rezeption. Erst durch diesen bislang nicht unternommenen Perspektivenwechsel wird es möglich, differenzierte Aussagen zum Wirken der Gesellschaftssymbolik zu treffen und namentlich die Unterschiede zwischen der lateinischen und der volkssprachigen Tradition angemessen zu würdigen.

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Zusammenfassung der Ergebnisse (Auszug)

Der ›Liber de moribus hominum et de officiis nobilium sive de ludo scaccorum,#139; des Dominikaners Jacobus de Cessolis weist nach dem Befund der Handschriften in seiner mittelalterlichen Überlieferung eine große Einheitlichkeit von Struktur und Inhalt auf, die auch mit den Übertragungen in die Volkssprachen nicht verloren ging. Dennoch zeigte sich in der vorgelegten Untersuchung, daß sich im Zuge der Rezeption der Schachzabelbücher markante Veränderungen einstellten, was die Herangehensweise des Publikums an die Texte und seinen Umgang mit ihnen anbelangt. In diesem Nebeneinander von Beharrungskraft und Innovation erfaßten die Wandlungsvorgänge auch die Rolle der Spielsymbolik, welche die Texte maßgeblich prägt. Die Schachbildlichkeit erfüllte in den Schachzabelbüchern eine Doppelfunktion als textprägendes Strukturmerkmal und als Gesellschaftsmetapher. Damit war die Rolle, welche die symbolische Komponente spielte, jedoch abhängig von der Gliederungskraft der Textstruktur. Änderte sich diese, wie es in dieser Studie anhand der Rezeption der unterschiedlichen Bearbeitungen der Schachzabelbücher gezeigt werden konnte, änderte sich zugleich die Rolle der Symbolik.

Um diesen Prozeß beobachten zu können, durfte das Augenmerk nicht – wie das in der Forschung bislang vorwiegend geschah – einseitig nur auf die Symbolik gerichtet werden. Eine Studie, welche die Schachbildlichkeit allein vor dem Hintergrund der allgemeinen Entwicklung mittelalterlicher Gesellschaftssymbolik betrachtet hätte, wäre nicht geeignet gewesen, den Verschiebungen im Gefüge von Textstruktur und Allegorese nachzuspüren. Statt dessen war zu beachten, daß die Schachzabelbücher an zwei Traditionen gleichermaßen teilhaben: an der Tradition der Sozialmetaphern, hier insbesondere der Schachmetapher, und an der Tradition der handbuchartigen Exempel- und Sentenzensammlungen. Notwendig war dementsprechend die Entwicklung eines polygenerischen Ansatzes, der beiden Aspekten in der Interpretation gleichermaßen Rechnung trägt. ›Polygenerisch‹ impliziert in diesem Zusammenhang die Möglichkeit, daß die unterschiedlichen Bedeutungs- und Traditionsstränge des Textes sich in ihrer Entwicklung zwar beeinflussen, es aber nicht notwendigerweise zu einer harmonischen Integration innerhalb eines größeren Ganzen kommen muß. Gerade eine rezeptionsgeschichtliche Annäherung an die Schachzabelbücher eröffnet eine Deutungsperspektive, welche vorführt, wie bestimmte Leser- bzw. Nutzergruppen bestimmte Aspekte und Angebote des Textes unter Vernachlässigung anderer aufgriffen.

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